Du beschreibst, so wie ich dich verstehe, eine theoretische Situation. Eine Lieschen Müller bucht einen Flug auf 11 Uhr, dieser wird allerdings 5 Monate vor der geplanten Reise auf 8:15 Uhr vorverlegt.
Wenn ich dich richtig verstehe, dann fragt sich Lieschen Müller, welche Ansprüche sie hat. Dabei sprichst du bereits von der EU-Fluggastrechteverordnung, an die ich persönlich auch erst einmal denken würde, und schließt Ansprüche aus Artikel 7 EU-VO richtigerweise aus meine ich - denn du sagst, dass Lieschen Müller früher als 2 Wochen im Voraus informiert wurde. Dies ergibt sich allerdings nicht aus Artikel 5 Absatz 3, wie du schreibst, sondern aus Artikel 5 Absatz 1 c) i). Artikel 5 Absatz 3 EU-VO beschäftigt sich mit dem Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die, wenn sie zu einer Annullierung führen, von der Fluggesellschaft substantiiert dargelegt ebenfalls einen Ausschluss der Ausgleichszahlungen begründen können.
EuGH, Urteil vom 13.10.2011, Az C-83/10 (bei Google einfach zu finden unter: „C-83/10 reise-recht-wiki“)
Eine Annullierung liegt immer dann vor, wenn ein Flug nicht so durchgeführt werden kann wie geplant und der Start daher aufgegeben wird.
Ich meine, dass du deine Frage 1 damit schon selbst beantwortet hast. Ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach Artikel 7, der einem Passagier bei einer Flugannullierung im Sinne von Artikel 5 EU-VO zustehen kann entfällt, wenn der Passagier früh genug informiert wurde. Und früh genug meint in jedem Fall früher als 2 Wochen im Voraus:
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,
i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder (...)
Bei einer Informierung 5 Monate im Voraus entfällt, so der Wortlaut des Artikel 5, ein Anspruch nach Artikel 7. Eine anderweitige Auslegung ist mir persönlich nicht bekannt, ebenso wenig wie Urteile, die eine andere Vorgehensweise begründen würden.
Du sprichst außerdem, von der 3-Stunden-Grenze bei Vorverlegungen. Möglicherweise im Sinne dieser Urteile:
EuGH, Urteil vom 26.2.2013, Az.: C-11/11 (einfach zu finden über Google unter ”reise-recht-wiki”
Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 […]ist dahin auszulegen, dass auf seiner Grundlage dem Fluggast eines Fluges mit Anschlussflügen, dessen Verspätung zum Zeitpunkt des Abflugs unterhalb der in Art. 6 der Verordnung festgelegten Grenzen lag, der aber sein Endziel mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreichte, eine Ausgleichszahlung zusteht, da diese Zahlung nicht vom Vorliegen einer Verspätung beim Abflug und somit nicht von der Einhaltung der in Art. 6 aufgeführten Voraussetzungen abhängt.
EuGH, Urteil vom 10.2012, Az: C-629/10 (ganz einfach zu finden, wenn Du bei Google eingibst “ EuGH C 629/10 reise-recht-wiki.de“)
In diesem Urteil hat der EuGH mehrfach darauf hingewiesen, dass Grund für die Anwendungen der Ausgleichszahlungen der Umstand sei, dass ein Zeitverlust von mehr als 3 Stunden entstanden ist und die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten ausgeglichen werden sollen. Für den Passagier ist es nämlich allein entscheidend, wann er an seinem Zielort eintrifft und nicht, ob die Verspätung vor oder nach Abflug entsteht.
Dabei geht es meiner Meinung nach um Verspätungen, beziehungsweise Flugverschiebungen nach hinten. Dabei, so den Urteilen des EuGH zufolge, soll für die Annahme einer Flugannullierung beziehungsweise das Auslösen von Ansprüche aus Artikel 7 EU-VO tatsächlich eine Verschiebung von mehr als 3 Stunden vorliegen.
Vorverlegungen betreffend existiert aber außerdem dieses Urteil:
AG Hannover, Urteil vom 21.04.2011, AZ: 512 C 15244/10 (einfach zu finden, wenn du bei Google AG Hannover 512 C 15244/10 reise-recht-wiki.de eingibst)
Bei einer Vorverlegung eines Fluges entspricht dies einer Annullierung des ursprünglichen Fluges, wenn die Vorverlegung mehr als zehn Stunden beträgt.
BGH, Urteil vom 09.06.2015, Az.: X ZR 59/14 (einfach zu finden, wenn du bei Google BGH X ZR 59/14 reise-recht-wiki.de eingibst)
Der BGH hat entschieden, dass eine Vorverlegung um 9 Stunden einer Annullierung des Fluges gleichkomme, auch wenn die Passagiere auf einen anderen Flug umgebucht werden.
Vorverlegungen verlangen, so die obigen Urteile, also meien ich noch eine drastischere zeitliche Zäsur, um als Annulierung zu gelten. Die in deinem Fall genannten knappen 3 Stunden erscheinen mir vor dem Hintergrund der obigen Urteile deshalb an sich als zweifelhaft, um überhaupt als Annullierung angesehen werden zu können. Allerdings hängt dies selbstverständlich wie immer vom Einzelfall ab.
Du fragst außerdem, ob es Studien gibt, die belegen können, dass Airline Verlegungen von Flügen praktizieren, um zunächst auf Kundenfang zu gehen, und diese dann umzubuchen.
Soweit ich weiß existiert auch keine Praxis des Kundenfangs und der anschließenden Umbuchung. Es ist meine ich so, dass eine gewisse Flexibilität vonnöten ist, um den Flugverkehr zu gewährleisten. Kommt es zu solchen Umbuchungen wie oben genannt, dann stehen Passagiere ja außerden nicht schutzlos da. Die EU-Fluggstrechteverordnung eröffnet, neben Artikel 7 EU-VO, auch noch weitere Ansprüche. So auch den Artikel 8 EU-VO, der es dem Passagier möglich sich den Flug kostenfrei und vollständig von der Airline erstatten zu lassen. Dann könnte, wie in deinem Beispiel, Lieschen Müller mit dem gewonnen Geld 5 Monate vor Reisebeginn einen Flug bei einer anderen Airline buchen. Sie hatte sich ja ohnehin schon Gedanken darüber gemacht, ob sie nicht anderswo ein günstigeres Angebot finden könnte. Daher ist meine ich in diesem Fall auch eine Ausgleichszahlung nicht unbedingt notwendig. Eine Ticketerstattung, oder die Nachfrage nach einer Umbuchung ebenfalls im Sinne der Artikel 8 EU-VO, können den Bedürfnissen eines Passagieres durchaus gerecht werden meine ich:
(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen
a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, (...)
b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder
c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.
Es ist natürlich nichtsdestotrotz ärgerlich für Passagiere, wenn Flüge verlegt werden. Falls du also ein schlechtes Gefühl hast, dann steht es dir natürlich frei das Vorgehen deiner Airline gerichtlich prüfen zu lassen, oder zumindest einen Anwalt zurate zu ziehen, wenn du einmal in dieselbe Situation wie Lieschen Müller kommen solltest.