Lieber Fragesteller,
grundsätzlich stellt die ordnungsgemäße Gepäckbeförderung eine Hauptleistungspflicht aus den Flugbeförderungsverträgen dar. Das bedeutet, dass Ihnen die Fluggesellschaft nicht nur die pünktliche Personenbeförderung von A nach B schuldet, sondern zeitgleich Ihr aufgegebenes Reisegepäck pünktlich befördern muss. Kommt das aufgegebene Reisegepäckstück nicht pünktlich mit Landung am Flughafen an, sollten Fluggäste unbedingt beachten, den Schaden am besten noch im Flughafengebäude anzuzeigen und sich eine schriftliche Schadensanzeige (P.I.R. = Property Irregularity Report) aushändigen lassen. Es sind unbedingt die extrem kurzen Anzeigefristen zu beachten.
Vor Ort haben Fluggäste dann zunächst das Recht, notwendige Gegenstände ersatzweise zu beschaffen. Häufig suggerieren Fluggesellschaften oder deren Erfüllungsgehilfen, es gäbe irgendwelche Tagespauschalen oder Pauschalsätze, an die sich Fluggäste, die von einer Gepäckverspätung oder einem Gepäckverlust betroffen sind, zu richten hätten. Dies ist falsch.
Die Fluggesellschaft haftet nach dem Montrealer Übereinkommen in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Gepäckschäden, geändert durch die VO (EG) Nr. 889/2002, §47 Luftverkehrsgesetz grundsätzlich für alle kausal verursachten Schäden, Aufwendungen und Kosten. Die von der EU übernommenen Haftungsvorschriften des MÜ über die Haftung für aufgegebenes Reisegepäck dienen der Stärkung des Schutzes der Fluggäste. Sie ist eine der Gefährdungshaftung angenäherte Erfolgshaftung (vgl. VO (EG) Nr. 889/2002; BGH, Urt. v. 05.12.2003, Az.: X ZR 165/03) und als Obhutshaftung die nahezu strengste Haftungsform im deutschen Recht. Der verschuldensunabhängige Anspruch bedeutet, dass sich die Frage des Verschuldens gar nicht stellt, sondern die Fluggesellschaft grundsätzlich zum Ausgleich aller Schäden verpflichtet ist.
Bei Gepäckverspätung haftet die Fluggesellschaft nach Artikel 19 des Montrealer Übereinkommens, im Falle des Gepäckverlustes nach Artikel 18 des MÜ. Die Haftungshöchstgrenze gilt im Übrigen pro Fluggast und nicht pro Koffer (vgl. EuGH, Urt. v. 22.11.2012, Rs. C-410/11 Sánchez ua v. Iberia Líneas Aéreas de España S.A.), d.h. bei einer Reise von 4 Fluggästen gilt zunächst eine Haftungshöchstgrenze von 4 x 1.131 SZR = 4.524 Sonderziehungsrechte.
Schließlich ist zu beachten, dass die Vorlage von Quittungen, Rechnungen oder anderen Zahlungsbelegen nicht notwendig vorgeschrieben ist. Der Fluggast kann seine Schäden darlegen und beweisen, wie er es für richtig hält. Der Dokumenten- bzw. Urkundenbeweis ist sicherlich der schlagkräftigste und aussagekräftigste Beweis im Prozess. Stehen jedoch keine Quittungen oder Dokumente zur Verfügung, bleiben Anspruchstellern immer die Beweismittel des Augenscheins, des Zeugen- oder Sachverständigenbeweises oder der Parteivernehmung. Ein Gericht ist in der Schadensermittlung und Beweiswürdigung frei (vgl. §§286, 287 ZPO) und entscheidet nach freier Überzeugung. Das Fluggäste nicht für jede im Reisegepäck aufgegebene Socke und jedes Unterhemd eine Quittung vorweisen können, versteht sich von selbst. Daher ist der gesamte Tatsachenvortrag zum Schadenshergang unter Berücksichtigung der Darlegungs- und Beweislast heranzuziehen.
So hat zum Beispiel das OLG Köln in zwei Fällen entschieden, dass die Fluggesellschaft einem Fluggast, der seine Kameraausrüstung auf einem Flug verlor, zum vollumfänglichen Schadensersatz über EUR 5.248,41 verpflichtet ist (OLG Köln, Urt. v. 02.12.2003, Az: 24 U 52/03 und OLG Köln, Urt. v. 15.02.2005, Az: 22 U 145/04). Die Richter des OLG Köln stellten fest, dass ein aufgegebener Koffer nicht einfach so im Orbit verschwinde, sondern bei den heutzutage lückenlosen Gepäckleitsystemen nur durch Fahrlässigkeit der Fluggesellschaft und ihrer "Leute" i.S.d. MÜ abhanden kommen könne.
Die beiden vorstehenden Fälle zeigen, dass Fluggesellschaften es sich im Rahmen der Haftung bei Gepäckverspätung oder Gepäckverlust häufig zu leicht machen und berechtigte Ansprüche von Fluggästen nur abweisen, um sich der Haftung zu entledigen. Die Instanzgerichte verpflichten die Fluggesellschaften jedoch, ihrer (Sekundär-) Darlegungs- und Beweislast nachzukommen und die Hintergründe eines solchen Gepäckverlustes auszuklären. Das Gesetz verpflichtet die Airlines dazu. Denn wenn der Fluggast sein Eigentum im Vertrauen auf die ordnungsgemäße Beförderung durch die Fluggesellschaft in deren Hände gibt, muss diese auch die Haftung tragen.
Ich hoffe, Ihnen eine erste hilfreiche Orientierung gegeben zu haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Jan Bartholl
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